Gedicht für Österreich, 1994
Menschen
deren Leben
auf den Wegen, in den Kanälen
verfault
deren Blumen
zur unrechten Zeit erblühen
die ihre Flügel
zur unrechten Zeit erheben
mitten in der Enge
mitten in der Finsternis
mitten in den klebrigen Abwässern
sie liegen brach
wie ein vergessenes Feld
treiben wild wuchernde Gewächse
traumhafte, wahnhafte, natürlich-phantastische Pflanzen
Wenn ein Einziger
von ihnen
─ sie sind die verborgene Schönheit und die verborgene Größe
einer Gemeinschaft (Lao Tse sagt: In der Not zeigt
sich die Größe eines Volkes)─
durch ein Wunder seines Schicksals
einen Ausgang findet
Licht sieht
den Tunnel durchschreitet
wie einen raschen Traum
dann trocknet die Fäulnis seines Lebens in der Luft und fällt ab
er entfaltet seine Blüte im Sonnenlicht
seine Flügel breitet er aus
und es heißt:
er ist emporgestiegen
wie der Phönix aus der Asche
mit kindlichen Augen
verfolgen alle sein Glänzen
am Firmament
Wenn einmal
die Kanäle so weitverzweigt und so eng sind
daß nur noch durchkommt
wer über Leichen geht
wer sich die Nase zuhält vor der Fäulnis
wer blind ist für die verkommende Pracht
wer taub ist für das Knirschen brechender Flügel
und das monotone Jammern der Siechenden
wer kriecht wie die listige Schlange
daß selbst die Ratten
aus ihnen emporsteigen
und bei Tag die Nacht ausrufen
auf den Straßen zu schreien beginnen:
Viva la muerte! Es lebe der Tod!
wenn der Tod
schon auf die Straßen bricht
so allgegenwärtig ist
daß ihn niemand mehr sieht
wenn er durch die Straßen geht
und großtut
so beherrschend
daß ihn niemand mehr benennen kann
so ungreifbar
daß alle lachen
wenn jemand ruft:
das ist ja der Tod!
so betörend
daß er als strahlender Jüngling
verzückt über das Land hinlächelt
so durchdringend
daß alle Gesichter erstarrt sind wie die von Leichen
und ihn wie einen Schatten von sich werfen
dann muß man
für jeden dankbar sein (wie für einen neugeborenen Bruder)
von dem langsam die Totenstarre abfällt
und der mitkommt
um die Kanäle aufzureißen
damit Luft eindringt und den Gestank freilegt
damit Licht in die Finsternis fällt
und die Siechenden genesen können
und aus den aufgerissenen Gräbern steigen
Sie können der Sonne die Wahrheit verkünden
dem Tag die Nacht und der Nacht den Tag zeigen
und den Tod aus den erstaunenden Gesichtern nehmen
wie Faschingsmasken
Nur dann
kann niemand mehr den Tag zur Nacht erklären
kann der Tod seinen Namen zurückbekommen
und kann sich nicht mehr wie ein Fürst auf die Straßen trauen
geschlagen muß er sich auf die Friedhöfe zurückziehen
der strahlende Jüngling wird in die Wüste geschickt
und die Ratten müssen in die Kanäle zurückkehren um nicht zu verhungern